Warum macht man das? Warum steht man um vier Uhr morgens auf, zieht die Wanderschuhe an und packt sich Blasenpflaster und Sonnenschutz in den Rucksack, um sich um 5 Uhr nach einer kurzen Aussendung in der Pfarrkirche auf den Weg nach Altötting zu machen – davon 32 km zu Fuß? Warum lässt man für diesen Tag die Arbeit im Haus und auf dem Hof ruhen, warum macht man eine Auszeit vom Lernen für wichtige bevorstehende Klausuren – nur um nach Altötting zu gehen, ein Ziel, das man in einer knappen Stunde mit dem Auto erreichen könnte?
Die Gründe für die 105 Wallfahrer aus Aunkirchen sowie umliegenden Pfarreien, sich jedes Jahr aufs Neue auf das Abenteuer einzulassen, sind verschieden. Für den einen ist es das religiöse Bedürfnis, mit seinen persönlichen Anliegen und seinem Packerl, das es im Leben zu tragen gilt, nach Altötting zu gehen, auf dem Weg zu beten — für sich selbst oder aber eine andere Person, für die man ein Stück des Weges mitgehen will. Für den anderen ist es die sportliche Herausforderung, die ihn reizt. Für viele ist es eine persönliche Tradition geworden, Jahr für Jahr dabei zu sein. So unterschiedlich die Gründe zum Mitgehen auch sein mögen, jeder Beweggrund hat seine Berechtigung.
Die Tradition dieser Wallfahrt reicht bis ins Jahr 1844 zurück: schwere Unwetter mit Hagelschlägen hatten damals die Ernte vernichtet. Seither gelobten die Aunkirchener eine jährliche Wallfahrt nach Altötting. Das heißt: seit nun 180 Jahren macht sich eine Gruppe auf den Weg zur Schwarzen Madonna — jedes Jahr, auch im Krieg, auch während Corona.
Machbar ist dies heutzutage, weil es im Dorf zwei Leute gibt, die diesen Tag bereits lange vorher planen und organisieren: Wallfahrtsführer Joe Königseder und Organisator Karl Leuzinger. Die beiden – selbst Wallfahrer mit Leib und Seele – sorgen dafür, dass der Tag reibungslos verlaufen kann und kümmern sich darum, die Pilger heil nach Altötting und wieder zurück nach Aunkirchen zu bringen. Ihnen zur Seite steht ein Helferteam bestehend aus Robert Heininger in der Organisation, Jürgen Arbinger und Stefan Stoiber als Verkehrshelfer, die Kreuzträger Tobias Hölzlberger und Xaver „Bubi“ Giermeier, Armin Leuzinger als Träger der Kerze, Maria Lechner und Bodo Kampschulte als weitere Vorbeter an der Seite von Joe Königseder und nicht zuletzt die Fahrer des Begleit- und Versorgungsfahrzeugs Markus Kühnert und Alex Weiß.
Eine erste Rast wurde nach zweieinhalb Stunden Fußmarsch um halb acht in Egglham eingelegt. Nachdem der Baumgartener Berg geschafft war – für viele Teilnehmer der schwierigste Teil der Strecke – wurde kurz bei einem Marienlied inne gehalten. In Baumgarten hatte das Gasthaus Veitweber extra für die Gruppe geöffnet und versorgte die Gäste mit Weißwürsten, Brezen und Getränken. Danach wurde traditionell auf der Anhöhe kurz nach dem Ortsende von Baumgarten an einem ehemaligen Bauernhaus ein „Vater unser“ gesprochen. Joe Königseder weiß warum: „Viele Jahre lang erwartete uns hier der alte Bauer dieses Anwesens, betete und sang mit uns und geleitete uns dann mit seiner Hofglocke wieder hinaus. Mittlerweile ist der Bauer lange verstorben. Doch zu seinem Gedenken halten wir hier kurz inne“.
Weiter ging es am Vormittag bei sommerlichen Temperaturen zu Fuß bis Pfarrkirchen. Dort standen bereits Alois Unertl vom gleichnamigen Busunternehmen und einer seiner Mitarbeiter mit zwei Bussen bereit. Sie brachten die Teilnehmer nach Mitterskirchen ins Gasthaus Rothneichner zur Mittagspause. Auch danach fuhren sie noch einmal mit dem Bus weiter bis zum Weiler Kager kurz nach Reischach. Ab hier startete die Zieletappe zu Fuß zuerst entlang des Reischacher Baches und des Inns, dann über die Innbrücke und schließlich durch Neu- und Altötting.
Um 15:45 Uhr ging Wallfahrtsrektor Klaus Metzl den Pilgern ein Stück weit entgegen. Erfreut begrüßte er Wallfahrtsleiter Joe Königseder und geleitete die Aunkirchener ein zu ihrem Ziel: dem Kapellplatz in Altötting, wo einige Angehörige der Fußwallfahrer die Gruppe mit Applaus empfingen. Gemeinsam zogen sie dann in den Kongrationssaal ein. Dort zelebrierte Klaus Metzl einen Gottesdienst, unterstützt von Wallfahrtsleiter Joe Königseder als Lektor sowie den beiden Aunkirchener Oberministranten Korbinian Halser und Paul Kampschulte.
Metzl predigte zu dem Spruch aus dem Evangelium „Ihr seid Zeugen!“. Pilgern sei ein Ausdruck des Lebens und jeder habe ein tiefes Bedürfnis nach Leben. Das Leben könne man als eine Wallfahrt deuten. Jeder habe dabei sein Kreuz zu tragen. „Und einiges habt ihr mitgetragen!“, so Metzl zu den Kirchenbesuchern. Und bei diesen berührenden Worten hatten viele Wallfahrer ihre Gedanken bei dem, was sie selbst mitgetragen hatten — sei es der längst verstorbene aber unvergessene Freund, der viele Jahre mitgepilgert war, das Schicksal eines Nachbarn, das einen nicht unberührt lässt oder was sonst als persönliches Packerl mit auf die Reise nach Altötting genommen worden war.
Als die Pilger in der Kirche zur Ruhe kamen und so langsam die müden Muskeln spürten, da ahnten sie wohl, was die ersten Aunkirchener Wallfahrer vor 180 Jahren auf sich genommen und geleistet hatten, die ohne klimatisierten Reisebus für Zwischenstrecke und Heimfahrt, sondern 60 Kilometer hin und auch wieder zurück zu Fuß drei Tage für ihr gegebenes Versprechen unterwegs waren.
Trotz all der Mühsal: „Und nächstes Jahr wieder!“, so das überzeugte Resumee von Wallfahrtsleiter Joe Königseder, der selbst heuer zum 45. Mal nach Altötting gegangen war.